OCR Output

3. DIE VERUNSICHERTE IDENTITAT — POESIE ENTTAUSCHTER DEUTSCHUNGARN

noch 1801 im Preßburger Almanach-Programm des Christoph Rösler
zu lesen war, so musste es immer deutlicher werden, dass es kaum zum
ersehnten Durchbruch kommen könne, dass der Provinzialismus nicht zu
überwinden sei, falls man sich als deutscher Dichter zu Ungarn bekannte.
„Die deutsche Literatur in Ungarn“ — wie Kertbeny 1846 etwas vielleicht doch
übertrieben, aber nicht ohne jeden Grund die resignierte Bilanz zu ziehen
gezwungen fühlte - sei schließlich in ihrer unprofilierten Art nichts weiteres
als eine „Müßiggänger-Literatur [...] ohne Richtung“ geblieben.” Die Zeiten,
als sich „die deutschen Dichter“ in den Städten des Königreichs noch im edlen
»Wetteifern [...] mit den ungarischen Nationaldichtern“ für den „Fortschritt
der Kultur des gemeinsamen Vaterlandes“ einsetzten, wie darüber einst der
Neue Teutsche Merkur in Weimar berichtete,?® waren endgültig vorbei. Dem
raschen Aufstieg der ungarischen Literatur sowie des urbanen ungarischen
literarischen und kulturellen Lebens, das im Königreich zwischen 1795 und
1810 nahezu völlig erlahmte, stand in den Jahrzehnten des Vormärz nichts
mehr im Wege. Freilich hat dazu u. a. auch die auffallende Veränderung
der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung beigetragen. In der
hauptstädtischen Region von Pest-Ofen lebten z. B. um die Mitte des 19.
Jahrhunderts wie um 1800 nahezu unverändert rund 50.000 Deutsche,?! aber
außer ihnen lebten einst nur insgesamt 10.000 andere (Raitzen, Slowaken und
Magyaren, fast alle jeweils mit hervorragenden Deutschkenntnissen). Nun
aber gab es bereits ebenda auch nahezu 40.000 Ungarn! (Man berücksichtige
allerdings bei den Erwägungen folgender statistischer Angaben aus der Zeit
der Jahrhundertmitte, dass man nach den Forschungen von Peter Varga
davon ausgehen kann, dass auch die über 14.000 starke jüdische Bevölkerung
der Hauptstadt damals noch deutschsprachig war.)

Prozent aller
Ofen Pest Insgesamt
Einwohner
Deutsche 22.122 33.884 56.006 48,28 %
Ungarn 6.182 31.965 38.147 32,89 %
Serben 1.145 570 1.715 1,48 %

28 Rösler, Vorrede, S. 2.

29 In: Jahrbuch des deutschen Elements in Ungarn, siehe in Anm. Nr. 2, S. 6.

30 Der neue teutsche Merkur, 1803, H. 3, S. 213.

3 Das Wachstum überschritt diesbezüglich nach meiner Einschätzung weniger als 10.000.
Siehe auch Kap. 1/4. Hierzu sei auch an Ludwig Barnay, den 1842 im Pest als Sohn des Ober¬
Notärs der israelitischen Kulturgemeinde geborenen und bis in die sechziger Jahre ebenda
aufgewachsenen, schließlich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts weltweit gefeierten
deutschen Schauspieler erinnert. Er sprach und verstand so gut wie gar nicht ungarisch,

32

obwohl er zwei Jahrzehnte (seiner Kindheit und Jugend) ununterbrochen im Pester
Stadtzentrum lebte. In: Barnay, Ludwig: Erinnerungen. 2. Bde. Berlin: Egon Fleischel u. Co.,
1903, S. 345, 378. Zu L. Barnay siehe mehr im Kap. VII.