IV. ELEGIE AN MEIN VATERLAND...
3. DIE RUHMREICHE ALTE ZEIT — EIN SCHWERPUNKT
DER POETISCHEN GESCHICHTSBILDER IN UNGARN
Die historischen Details, deren thematische Proportionen und die mit
diesen verbundenen Ansichten und Stellungnahmen fiigen sich im Grunde
genommen reibungslos in den gehaltstypologischen Kontext der zeitge¬
nössischen magyarischen und deutschungarischen historischen Lyrik.
Abgesehen von manchen Bildern aus der Nahvergangenheit ist die deutsche
Elegie dank ihrer historischen "Thematik, den ideologischen Grundpositionen
des ungenannten Autors, ja in gewissem Maße auch den ausdrucksvollen
Stimmungskontrasten eigentlich sogar dem berühmtesten Gedicht der
Ungarn, dem Hymnus von 1823’, verwandt.
Wenn man dagegen die deutschungarische Elegie mit der historischen
Dichtung der zeitgenössischen deutschen Literatur vergleicht, stellt es sich
heraus, dass die erheblichen Differenzen nicht nur den selbstverständlichen
Unterschieden im jeweiligen nationalhistorischen Faktenmaterial zu verdanken
sind, sondern vielmehr den stark abweichenden Interessen für die verschie¬
denen Epochen der Geschichte. In Deutschlands literarischem Leben war z.B.
im Jahre 1807 die Zuwendung zu historischen Themen des hohen Mittelalters
und seiner Kultur um 1200 unvergleichbar größer als zu der Zeit der Völker¬
wanderung. Gleichzeitig erhielt dagegen der landnehmende Fürst Ärpäd in der
ungarischen und deutschen Literatur des Königreichs Jahrzehnte hindurch
eine hervorragende Vorbildfunktion. Man kann es daher annehmen, dass die
Leser in Deutschland von ihm und seinen Kriegern, besonders wie diese von
dem Verfasser der Elegie vorgestellt wurden, von vornherein kaum angetan
sein konnten. Schon die ersten Worte der historischen Szenen, welche die
magyarischen Ahnen sehen ließen (ihr Aussehen, ihre barbarische Bekleidung,
ihre Sitten"), hätten auf sie möglicher Weise befremdend gewirkt, eventuell sie
sogar an manche ihrer ureigenen historisch tradierten Vorstellungen über die
ehemaligen Gräueltaten der Hunnen bzw. der heidnischen Magyaren erinnert.
77 Kölcsey, Ferenc: Himnusz. A magyar nép zivataros századaiból [Hymnus. Aus den
stürmischen Jahrhunderten des ungarischen Volkes]. In: Kölcsey Ferenc minden munkái.
Versek és versforditäsok [Sämtliche Werke v. F. K. Gedichte u. Nachdichtungen]. Hg. v.
Zoltan Szabö. Budapest: Universitas Kiadö [Universitas Verlag], 2001, S. 103-105. 1844
wurde der Text v. Ferenc Erkel vertont. Die erste Strophe ist seither die Nationalhymne der
Ungarn. Der nationalhistorische Rückblick reicht darin von der zweiten bis zur vorletzten
Strophe mit thematischen Schwerpunkten, wie man denen auch in der deutschen „Elegie“
begegnet. Den deutschen Lesern des ungarischen Gedichtes ist die besonders gut gelungene
Nachdichtung von Annemarie Bostroem zu empfehlen. In: Ungarische Dichtung aus fünf
Jahrhunderten. Hg. v. Stephan Hermlin u. György Mihäly Vajda. Budapest / Berlin / Weimar:
Corvina Verlag u. Aufbau-Verlag, 1970, S. 48-50.
188 Z.B. „der heilige Schwur mit Blut bekräftigt“.