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WEGE Die im wirklichen Leben objektiv gegebenen Wege seien ja bei Weitem nicht deckungsgleich mit den sich vorgenommenen. Sich treu zu bleiben, hieße also, kluge Kompromisse machen. Um die früheren Geniepositionen so weit wie nur möglich zu retten, werden also schon nach einem knappen Jahr in Weimar (so widerspruchsvoll dies auch zu sein scheint) manche von deren fundamentalen Ideenträgern aufgegeben.!° Sie werden im Spiegel der Lyrik auf dem neuen Weg Jahr für Jahr, Schritt für Schritt aufgegeben. Und was blieb denn in den lyrischen Bekenntnissen um 1780, d. h. nach einem knappen halben Jahrzehnt, inmitten der frühklassischen Entwicklung aus den vielen Wegen des einstigen Sturmliedes noch erhalten? Alle neuen Wege des einst als grenzenlos erdachten und empfundenen Lebens führen nun laut Titel eines der bekanntesten Gedichte zwischen die Grenzen der Menschheit, d. h. zwischen die eisernen Grenzen von Raum und Zeit. Der Sturm ist nun Gottesgabe. Der Dichter sieht ihm nun mit höchster Demut entgegen. Die Verhaltensweise des göttergleichen Dichtergenius ist nun in allen Details nur noch eine Karikatur des Genies, dem man etwas später, 1790 auch in Tasso, dem „gesteigerten Werther“, wieder begegenet: Denn mit Göttern Soll sich nicht messen Irgendein Mensch. Hebt er sich aufwärts Und berührt Mit dem Scheitel die Sterne, Nirgends haften dann Die unsichern Sohlen, Und mit ihm spielen Wolken und Winde. Allein der ehemalige unkultivierte und keiner Bildung geeignete Antigenietyp bleibt immer noch der alte, er klammert sich nur an das rein Materielle, stets unverändert wie früher, so später auch im ganzen CEuvre ohne jede Hoffnung auf einen geistigen Aufstieg: Steht er mit festen Markigen Knochen Auf der wohlgegründeten, Dauernden Erde, Reicht er nicht auf, 10 Eine ausführlichere Besprechung über Goethes geistige Neuorientierung 1775-1776 im Spiegel seiner Gedichte siehe in diesem Band unter dem Titel „»Du hast für uns das rechte Maß getroffen« — Goethes Lyrik am Anfang des ersten Weimarer Jahrzehnts“. + 311 +