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VERSUCH EINES PORTRATS DES ROBERT GRAGGER Graggers Kritik an den Friedensplänen der „Sieger“® Gragger wusste bereits 1919 genau, dass die Sieger des Ersten Weltkrieges und ihre ostmitteleuropäischen Verbündeten bei weitem nicht im Sinne von Kossuth die Interessen, den Willen sowie die Rechte aller Nationen und Nationalitäten des Donautales erwägen, indem er sich folgendermaßen äußerte: Auf der einen Seite stehen die Besiegten, entwaffnet und hilflos. Auf der anderen Seite trachten die Sieger ihre Beute zu sichern [...] Die neuen Machthaber scheinen aus dem Beispiel der zerfallenen Monarchie, der Türkei, des Zarismus nicht gelernt zu haben. Sie verfallen in deren Fehler, indem sie Völker gegen ihren Willen in ihre neuen hybriden Staatsgebilde zwingen und sie beherrschen wollen. Schon jetzt zeigt sich, wie weit entfernt man von de Lösung des Problems ist.‘ Anschließend zog Gragger nach seiner Bestandsaufnahme der divergierenden Interessen (bzw. eines angehenden gehässigen Durch- und Gegeneinanders) von Tschechen und Slowaken sowie von Kroaten, Slowenen und Montenegrinern und andererseits von Serben, wie auch von den „Beschwerden der Deutschen [und] der Ungarn“, die „ins Unermessliche gestiegen“ seien, folgende Konsequenz: „Es hat sich nichts geändert. Der Geist der Unduldsamkeit, der Bedrückung und der Unfreiheit ist nicht verschwunden. Es ist nur aus den zerfallenen Staaten nach den neu gebildeten abgewandert.“” Zwei Jahrzehnte später, unmittelbar nach dem Friedensabkommen Ungarns mit Jugoslawien, argumentierte auch der Parlamentsabgeordnete Endre BajcsyZsilinszky für die Konföderation — wie er sich ausdrückte — „nicht nur im Interesse Ungarns, sondern mindestens in dem Maße in dem der Donau-Nationen und -Länder und vor allem in dem von Europa“. Gleichzeitig sprach er auf Grund der Erfahrungen von 1920 auch die „Siegermächte der Zukunft“ an, in den mitteleuropäischen Donau-Regionen nie wieder eine Art Protektorenrolle einzunehmen.® % Dieser Kapitelteil resümiert die einschlägigen kritischen Positionen Graggers, wie ich diesen während meiner Forschungen in den letzten Jahrzehnten seit 1987 begegnet bin. Mehr darüber und vor allem im Kontext zeitgenössischer ungarischer Berufungen auf Kossuth sowie zur Entstehungsgeschichte des ursprünglichen Kossuth’schen Konzepts siehe in meinen Beiträgen „Erst wägen dann wagen. Robert Graggers aktuellpolitische Erinnerung an die Kossuth’schen Konföderationsthesen“. In: Konnte Rilke Rad fahren? Die Faszination des Biographischen in der deutschen Literatur. Hg. v. Imre Kurdi. Frankfurt am Main: Peter Lang 2009. S. 201-213 sowie in „Tauben Ohren stumme Argumente...“ In: Von der Doppelmonarchie zur Europäischen Union. Hg. v. P. Behar u. E. Philippoff. Hildesheim: Georg Olms Verlag 2011. S. 157-177. Diese Beiträge enthalten auch wichtige Passagen der deutsch schwer zugänglichen KossuthTexte im Wortlaut der Gragger’schen Publikation. 66 Gragger, Die Donau-Konföderation, S. 4 f. (Hervorgehoben L. T.) 6 Ebd. 68 Bajcsy-Zsilinszky, Új, ésszerűbb, szervesebb ..., S. 597. + 197 +