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SCHILLERS LETZTE GEDICHTE IM KONTEXT ZEITGENÖSSISCHER DEUTSCHER LYRIK Verháltnis zur Gegenwart aufgeben, (was gewiss auch als Goethes Distanzierung von der modernen Verfremdungspoesie, wie ich diese in den Teilen 1 bis 9 vorzustellen versuchte, gelesen werden kann), zweitens auf die Freuden und Schönheiten des Lebens verzichten (eine Sünde, die als solche von den „Modernen“ nicht unbedingt oder möglicher Weise nur mit gemischten Gefühlen und Einschränkungen akzeptiert werden könnte) und schließlich drittens die Philisterweisheit tolerieren (diesmal freilich bei vollem Einverständnis mit jüngeren Modernen aller Zeiten). Dass Goethe nicht nur die ersten beiden, sondern auch die dritte nicht beging, was ihn schließlich doch noch ein klein wenig mit den modernen Dichtern verband, bezeugen aus dieser Zeit etwa ein Dutzend Gedichte gegen Karl August Böttiger, August von Kotzebue, Garlieb Merkel, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Friedrich Nicolai u. a. Freilich mündet das Gedicht nach Aufzählung der schlimmsten Sünden kurz vor dem Schluss in der zweiten Hälfte der fünften Strophe ohne jede Umschweife dem Leben zugewandt in die Summa summarum der verallgemeinerten Aussage darüber, wie man sich von diesen tatsächlich lebensgefährlichen Sünden bei entsprechender Reue befreien (und diese fürs ganze Leben auch vermeiden) könne: Willst du Absolution Deinen Treuen geben, Wollen wir nach deinem Wink Unablässlich streben, Uns vom Halben zu entwöhnen und im Ganzen, Guten, Schönen Resolut zu leben. Das Du und das Wir in den einleitenden drei Versen zu der verallgemeinerten These (in den Versen 4-7) beziehen sich dieses Mal auf alle Menschen, werden ja damit alle Leser bzw. Zuhörer des Gedichtes angesprochen. Diesen folgt das Rezept für die unerlässliche Verhaltensweise aller Menschen in vier Versen (im Zitat oben kursiv gedruckt) als der gehaltliche Kern des ganzen Gedichtes mit umschließenden Reimen zu einer untrennbaren Einheit abgerundet. Danach müsse man stets bestrebt sein (Vers 4), „Resolut zu leben“ (Vers 7), also was man auch tut oder erlebt, immer tatkräftig dabei zu sein, und zwar jeweils auch ohne „Halbheiten“ (Vers 5), mitanderen Worten „im Ganzen“ (Vers 6/a), das heißt aus Goethe’scher Sicht in den hochklassischen Jahren „im Guten“ und gleicher Weise auch „im Schönen“ (Vers 6/b). Dass es dabei um ein echtes Gedicht und nicht bloß um kluge Merksätze geht, veranschaulicht nicht nur - wie es sich gehört - die dichte kurzbündige Sprache der verallgemeinerten Abstraktion, sondern vor allem eine noch darauf folgende letzte Strophe mit lauter Metaphern ohne ein einziges konjugier+ 167 +