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SCHILLERS LETZTE GEDICHTE IM KONTEXT ZEITGENÖSSISCHER DEUTSCHER LYRIK auch in der Widerlegung mancher heftiger Angriffe im literarischen Leben jener Jahre und ganz besonders in so bedeutenden gemeinsamen Unternehmungen, Programmen und Plánen, wie sie in den letzten fiinf Jahren des 18. Jahrhunderts von Goethe und Schiller ausgetragen waren. Sogar Goethes verstándnisvolles Interesse für Lieder auf fliegenden Bláttern verband ihn wesentlich mehr mit den jüngeren Romantikern, als mit manchen ehemaligen früheren Mitstreitern für das volkstümliche Genre in der Poesie. Bei eingehender Untersuchung seiner Lyrik zwischen 1800 und 1804 und deren Vergleich mit den Gedichten seiner modernen Zeitgenossen stellt sich allerdings mit besonderer Deutlichkeit die grundsätzliche Sonderstellung der Goethe’schen Poesie heraus: Eine Tatsache, die allerdings nicht nur für späte Nachkommen eine ist. Ist es so, dann lässt sich aber eine gehaltstypologische Gleichsetzung von Goethe und von Dichtern (von mehreren? von wenigen? von einem einzigen?) unter dem Etikett der sogenannten „hochklassischen Poesie“ kaum begründen. Bei aller gegenseitigen Achtung und Freundschaft sowie schöpferischen Einflussnahme aufeinander wussten ja selbst Goethe und Schiller vom Anbeginn ihrer Zusammenarbeit in den mittneunziger Jahren genau um die erheblichen Differenzen, die nicht sie, sondern ihre Werke voneinander trennten.’” Liest man ihre Briefe, theoretischen Schriften, und Notizen aus jener Zeit, erfährt man kurzerhand, dass sie geradezu um der eigenen schöpferischen Produktivität willen des intensiven Umgangs und der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit den von ihrer Sicht substanziell abweichenden Positionen des jeweiligen Anderen bedurften. Dabei gibt es kaum eine größere Divergenz in der Entwicklung zeitgenössischer Dichtung als jene zwischen Goethes und Schillers lyrischem Schaffen, besonders nach den Xenien- und den Balladenjahren, und - stärker noch - nach der Jahrhundertwende. Bezeichnenderweise schrieb Joseph Görres Mitte 1804 (kurz vor seinem produktiven Anschluss an die jüngere Romantik) in einem seiner süddeutschen Aurora-Beiträge von einer Art zeitgenössischer „Entzweiung“ des „Modernen“”® in der deutschen Poesie, indem er die Klassik und die Romantik als das „antik Moderne“” und das „modern Moderne“ einander gegenüberstellte.”° Dass er 7 DS Siehe dazu meine Überlegungen in diesem Band unter dem Titel „Romantisches und Sentimentales...“. In den Jahren seiner romantischen Orientierung verstand Görres unter Modernem ästhetischpoetisch Wertvolles im Gegensatz zu der bereits für anachronistisch gehaltenen Poesie der Spätaufklärung. An dieser Stelle sei an folgende Worte über Goethes „Iphigenie“ in Schillers Brief vom 21. 1. 1802 an Körner erinnert: „Sie ist [...] so erstaunlich modern und ungriechisch, dass man nicht begreift, wie es möglich war, sie jemals einem griechischen Stück zu vergleichen. Sie ist ganz nur sittlich [...]“ In: Schillers Briefe, Bd. 2. Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag, 1968, S. 278. (= BdK) Görres, Joseph: Aurora-Beiträge, Nr. 3. (erschienen in „Aurora, eine Zeitschrift aus dem südlichen Deutschland“, München, 15. Juni 1804) In: J. G.: Gesammelte Schriften, Bd. 4. Geistesgeschichtliche und literarische Schriften. I. (1803-1808). Hg. v. Günther Müller. Köln: GildeVerlag, 1926, S. 77. 7 u 7 a 7 a