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SCHILLERS LETZTE GEDICHTE IM KONTEXT ZEITGENÖSSISCHER DEUTSCHER LYRIK angeboten wurden, wirkten sogar auf anspruchsvollere Literaten des In- und Auslandes eher befremdend als begeisterungswürdig.? Umso mehr waren die vielen alten und neuen Leser® der Almanache, der Kalenderdichtung und der verschiedenen Modejournale in jenen Jahren von einer Literatur beeindruckt, in der sie bereits bekannten An- und Absichten der Verfasser begegnen konnten. Hinzu kam freilich auch die Erwartung einer in der Lesepraxis wenigstens einigermaßen geläufig gewordenen poetischen Sprache. Die sentimentale Trivialpoesie der Spätaufklärung, die den mitteleuropäischen Liedermarkt vor und nach 1800 überflutete, entsprach in jeder Hinsicht diesen Anforderungen.‘* Sie galt dabei auch unter den alten und neuen urbanen Konsumenten der Literatur sogar für recht anspruchsvoll]; eigentlich machte sie auch damals wie auch später den Eindruck, dass sie unter allen tradierten und noch gängigen Tendenzen nicht nur die vitalste, sondern tatsächlich auch die „modernste“ der alten sei. Gewiss könnte niemand die literarhistorisch repräsentativen deutschen Autoren zu sentimentalen Dichtern stempeln. Trotzdem sind empfindsame Züge sogar in manchen ihrer hervorragenden Gedichte nicht zu verkennen. Tiecks Mondbeglänzte Zaubernacht, Weht ein Ton vom Feld herüber, eine Reihe von Gedichten des jungen Brentano u. a. korrespondieren in vieler Hinsicht mit Stimmungen und Motiven der empfindsamen deutschen Modelyrik um die Jahrhundertwende. Auch in Schillers später Lyrik gibt es dafür zahlreiche Beispiele (u. a. Des Mädchens Klage, Der Jüngling am Bache, Im Garten).°° (Es dürfte auch kein Zufall sein, dass vor allem solche und ähnliche Gedichte der modernen deutschen Dichter um 1800 den Eingang in die Periodika und die Almanache der städtischen Leser gefunden haben und dass sie damals sogar außerhalb der deutschen Sprachgrenzen besondere Erfolge erzielen konnten.‘) © Ich berufe mich an dieser Stelle außer mancher kritischen Stellungnahmen in Deutschland (u. a. von J. W. Goethe) auf die entschieden kritische Ablehnung der neuen Tendenzen in der zeitgenössischen deutschen Dichtung (Novalis und Friedrich Schlegel) und Philosophie (Fichte, Schleiermacher) von dem Ungarn Ferenc Kazinczy, der führenden Persönlichkeit der zeitgenössischen ungarischen Literatur (siehe: in diesem Band, Kap. „Begegnungen mit der deutschen Literatur“, und Carl Anton von Gruber, dem damals bedeutendsten Dichter der Ungarndeutschen (siehe: Schnittpunkte, Bd. 1, S. 213). Nach R. Schenda sei der Anteil der Leser in Mitteleuropa von 1770 bis 1800 von 15% auf 25% angestiegen. Schenda, Rudolf: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der popularen Lesestoffe 1770-1910. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1977, S. 444. Vgl. dazu meine beiden Studien aus den 80er Jahren: Tarnöi, Läszlö: Unterhaltungslyrik der „eleganten Welt“ in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts. Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik. Bd. 4. Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag, 1982, S. 222-252; Tarn6i, Läszlö: Unterhaltungslyrik auf fliegenden Blättern um 1800, ebd. Bd. 5, 1982, S. 332-369. (= Impulse, 4 u. 5.) Letzteres war eine Kompilation der empfindsamen Gedichte Die Erwartung und Das Geheimnis aus den neunziger Jahren, mit Noten veröffentlicht im Jahre 1802 in Beilage zur ZEW, 1802, Heft 47. Siehe Kapitel „Romantisches und Sentimentales...“ in diesem Band. »Der Jiingling am Bache“ wurde z. B. bis 1842 sechsmal ins Ungarische übersetzt. 6: a 6: > 6: a 6 a + 163 +