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SCHILLERS LETZTE GEDICHTE IM KONTEXT ZEITGENÖSSISCHER DEUTSCHER LYRIK DIE AUFWERTUNG DER POESIE UND DER NEU INTERPRETIERTE BEGRIFF DER FREIHEIT Diese gehaltstypologischen Merkmale sind für den bei Weitem größten Teil der zeitgenössischen modernen Dichtung um 1800 typisch - trotz aller individuellen Unterschiede in der poetischen Gestaltung. So erhielt in der Lyrik Hölderlins die Antithese von Dichtung und Wirklichkeit einen ähnlichen Stellenwert wie bei Schiller. Insbesondere in der Griechenmetaphorik Hölderlins spiegelte sich seit den mittneunziger Jahren ein gestörtes Verhältnis zwischen Außenwelt und Weltanschauung wider; poetisch erträumte Harmonien werden kontradiktorisch zu der entstellten bzw. für entstellt gehaltenen Wirklichkeit gesetzt. Eines der Ergebnisse dieser zunehmenden Spannungen ist bei allen individuellen Unterschieden die erhöhte Wertempfindung der modernen Dichter um 1800 für das Poetische, das (ästhetisch) Schöne. Fühlt man diese bedroht, glaubt man alles verlieren zu können. Schiller schrieb Ende 1799: Siehe da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle, Dass das Schöne vergeht, dass das Vollkommene stirbt.” Etwa gleichzeitig sprach Hölderlin in einem seiner berühmtesten Gedichte, in Hälfte des Lebens, in poetisch feingewebten Bildern seine Ängste aus, die Dichtkunst - seine einzige Zuflucht — könnte an der Kälte des wirklichen Lebens erlöschen: Weh mir, wo nehm ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen.” Solche Metaphern, aber auch der Hölderlin-Vers „Was bleibet aber stiften die Dichter“ in Andenken von 1803?” korrespondieren bei allen Unterschieden eindeutig mit der modernen Aufwertung der Dichtung und des Dichters in Schillers Lyrik von den Künstlern bis zu seinen letzten Gedichten nach 1800, aber auch mit frühromantischen Allegorien von der Macht des Gesanges in den Arion-Gedichten von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck. 5 Schiller, Friedrich: ,,Nanie“, Berliner Ausgabe, Bd. 1, S. 490. 2° Hölderlin, Friedrich: „Hälfte des Lebens“ (1800). Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe. 4 Bde. Hg. v. Günther Mieth. Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag, 1970, Bd. 1, S. 447. ” Hölderlin, Friedrich: „Andenken“ (1803). Ebd., S. 492.