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SCHILLERS LETZTE GEDICHTE IM KONTEXT ZEITGENÖSSISCHER DEUTSCHER LYRIK versuche.”'! Die Akzente auf den syntaktischen Leitgliedern Aufstieg und Menschheit vermitteln dabei Impressionen optimistischer Zuwendung zur Wirklichkeit, das Attribut widerspruchsvoll den Eindruck differenziert „dialektischer“ Anschauungsweise. Damit entspricht diese Passage dem Muster herkömmlicher deutscher Literaturgeschichtsschreibung. Mit oder ohne Absicht können nämlich mit solchen und ähnlichen Worten indirekt Beziehungen zur Lyrik Goethes, die im gleichen Zeitraum entstand, hergestellt werden, wie er sie etwa in Dauer im Wechsel, in Weltseele bzw. in Natur und Kunst entwickelte. So entspräche natürlich auch der Lyriker Schiller deckungsgleich seinem schon immer tradierten Gütezeichen mit „Schaffensbündnis“, „schöpferischer Zusammenarbeit“ und Hochklassik. In Wirklichkeit drücken Die vier Weltalter eine ganz andere Stellungnahme aus: Im Mittelpunkt steht die desillusionierende Antithese, wie sie schon seit den beiden Fassungen der Götter Griechenlands bekannt wurde. Davor (d. h. vor diesem Mittelpunkt) wurden die Metaphern vom goldenen Zeitalter eingesetzt, womit gerade der Gedanke vom historischen Gefälle in der Entwicklung der Menschheit artikuliert wurde. Schließlich blieb dem Dichter nichts anderes übrig, als der traurigen realhistorischen Perspektivlosigkeit das Ideal der Kunst und der Liebe entgegenzusetzen: „Gesang und Liebe in schönem Verein, / Sie erhalten dem Leben den Jugendschein.“”? Ebenso wenig wie im Jahrhundertwendegedicht, in Sehnsucht, An die Freunde, Der Pilgrim usw. ist hier Anlass, vom „welthistorischen Aufstieg der Menschheit“ zu sprechen. ANTIKE-IHEMATIK IN SCHILLERS LETZTEN GEDICHTEN Auch die ihrem Thema nach noch der Klassik verpflichteten späten Balladen Schillers Hero und Leander und Kassandra sind von denen der Jahre der programmatischen Zusammenarbeit mit Goethe 1797/1798 durch ihre dunkle Stimmung, die düstere Aussichtslosigkeit sowie durch das unabänderlich gestörte Verhältnis zwischen Wollen und Können, zwischen Ideal und Wirklichkeit weit entfernt. Dass sie auf klassische Themen zurückgreifen, fällt dabei gar nicht ins Gewicht. Das Ihema ist ja jeweils nur Mittel zum lyrischen Zweck. Was Kassandra, die zur Unglücksprophetin verdammte troische Königstochter, in ihrem verzweifelt vorgetragenen Monolog dem Schicksal sagt, hängt ganz offensichtlich mit Spannungen zwischen der Erwartung von der Wirklichkeit und deren Erfüllung in der Wirklichkeit, wie sie der Dichter erlebte, auf das Engste zusammen: 21 Ebd., S. 237. 2 Schiller, Friedrich: „Die vier Weltalter“, Berliner Ausgabe, Bd. 1, S. 521. + 149 +