OCR
LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE tisch feierlich ineinander; sie verkiindeten die nach dem Autor bereits allgemein begonnene ideale Erneuerung der zwischenmenschlichen Beziehungen der Menschheit durch Freundschaft, ,Sympathie“, Verbriiderung und folglich den unverzüglichen Sieg der „Wahrheit“, der „Tugend“ und des „Glaubens“ sowie den ewigen Bruch mit allem, was der schuldbeladenen Vergangenheit angehörte. Dagegen hieß es 1789 in den Künstlern, wo das neu konstituierte Ideal in den schönen Ausgleich der gespaltenen Welt gesetzt wurde, „Fern dämmre schon in euerm Spiegel / das kommende Jahrhundert auf.“® Weitere vier Jahre später, im Sommer 1793 (inmitten der jakobinischen Schreckenszeit) brauchte die Menschheit dazu nach Schiller bereits sogar eine Entwicklung von über hundert Jahren, eine Zeit also, die als Realität weder von dem Verfasser noch von seinen zeitgenössischen Adressaten zu erleben war, wie er darüber u. a. in einem privaten Brief an den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg berichtete: Wenn ich also Gnädigster Prinz, über die gegenwärtigen politischen Bedürfnisse und Erwartungen meine Meinung sagen darf, so gestehe ich, dass ich jeden Versuch einer Staatsverbesserung aus Prinzipien (denn jede andere ist bloßes Not- und Flickwerk) so lange für unzeitig und jede darauf gegründete Hoffnung so lange für schwärmerisch halte, bis der Charakter der Menschheit von seinem tiefen Verfall wieder emporgehoben worden ist - eine Arbeit für mehr als ein Jahrhundert. Von der Jahrhundertwende an gibt es in der Lyrik von Schiller keine ähnlichen Anhaltspunkte mehr, welche das Festhalten des Dichters an den früheren Zukunftserwartungen in Raum und Zeit einer realen Welt auch nur einigermaßen untermauern könnten. So widerstrebt Schillers Lyrik nach 1800 bereits jeder Interpretierung nach aufklärerischen oder sogenannten „hochklassischen“ Normen - mit Fortschrittsglauben, optimistischer zukunftsorientierter Haltung, Objektivitäts- und Totalitätsansprüchen innerhalb der künstlerischen Abstraktion und Verallgemeinerung - wie diese auch immer ausgelegt werden mögen. Der programmatische Rückzug „in des Herzens heilig stille Räume“ im Jahrhundertwendegedicht ist keine Ausnahme, die man lediglich mit den augenblicklich erlebten bewegten Ereignissen vor dem Friedensabkommen in Luneville bzw. mit den ernüchternden Konsequenzen danach, d. h. mit einer lediglich vorübergehenden Krise des Dichters in Zusammenhang bringen dürfte. „Nur ein Wunder kann dich tragen/ In das schöne Wunderland“, schrieb ® Schiller, Friedrich: Die Künstler. Ebd., S. 214. (Hervorhebung LL. T.) ° Schillers Brief an den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg aus Jena vom 13. Juli 1793. (Hervorhebung L. T.) In: Träger, Claus (Hg.): Die Französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur. Leipzig: Röderberg-Verlag, 1975, S. 268. Vgl. dazu auch den 7. Brief Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen (entstanden 1793-1795, erschienen 1795). In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20. Weimar: Hermann Böhlau, 1962, S. 329. + 146 +