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SCHILLERS LETZTE GEDICHTE IM KONTEXT ZEITGENOSSISCHER DEUTSCHER LYRIK? DIE MODERNE TRENNUNG VON WIRKLICHKEIT UND POESIE IN SCHILLERS LETZTEN GEDICHTEN Engagierte politische Stellungnahmen waren der Schiller-Lyrik um 1800 genauso fremd wie der anachronistisch gewordene spätaufklärerische Optimismus vieler Zeitgenossen, mit dem diese das neue Jahrhundert begrüßten.? Solcherart zeitgenössischer Lyrik war das Schiller’sche Jahrhundertwendegedicht Der Antritt des neuen Jahrhunderts allenfalls thematisch verwandt. Die politischen Tendenzen der Zeit ließen nämlich den Dichter keinerlei Hoffnungen mehr auf die Realisierung seiner früheren, etwa um die Mitte der achtziger Jahre noch vertretenen aufgeklärten Vorstellungen von einer besseren Welt hegen. So tut sich zwar in den ersten fünfeinhalb Strophen des Gedichts das Interesse des Dichters für aktuelle welthistorische Ereignisse kund, innerhalb der unteilbaren Autonomie des Ganzen aber setzen die poetisch großzügig komprimierten Bilder aus der weltpolitischen Wirklichkeit lediglich metaphorische Werte, die dazu dienen, die poetische Aussage und Stellungnahme der letzten dreieinhalb Strophen nachempfinden zu lassen, wonach es nirgends auf der Welt ein „seliges Gebiet“ gibt, „Wo der Freiheit ewig grüner Garten,/Wo der Menschheit schöne Jugend blüht.“ So „unermesslich“ groß die Welt auch sein mag, so gibt es darin doch „für zehen Glückliche nicht Raum“, und da gesellschaftshistorische Hoffnungen ganz offensichtlich nicht einmal perspektivisch berechtigt sind, bleibt schließlich nichts anderes als der endgültige Rückzug von der Wirklichkeit „in des Herzens stille Räume“ und die Poesie übrig, denn „Freiheit ist nur in dem Reich der Träume, / Und das Schöne blüht nur im Gesang.“ VERFREMDUNGSMETAPHERN IN SCHILLERS LYRIK VON 1795 Gehaltstypologisch ist aber diese Einstellung zur Wirklichkeit nicht nur für Schillers Poesie um 1800, sondern für den weitaus größten Teil der damals ! Der ursprüngliche Text dieses Kapitels erschien als Teil II-IV der Studie „Poesie und Wirklichkeit in der deutschen Lyrik um 1800.“ In: Zeitschrift für Germanistik, Jg. 7, H. 3, 1986, S. 286-296. ? Siehe Kap. „Wirklichkeit und Modelyrik um 1800“ in diesem Band. 3 Schiller, Friedrich: An ***. In: Schiller: Sämtliche Werke. Bd. 1. Gedichte. Bearbeitet v. Golz, Jochen. Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag, 1980, S. 497 f. (= Berliner Ausgabe, 1.) + 143 +