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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE dicht lásst námlich die Minnelied-Attitüde am eindrucksvollsten nachempfinden, jedoch zugleich eine moderne Interpretationsweise zu. Das Gedicht hebt mit der Strophe der „Sehnsucht“ an: Noch sah ich sie, umringt von ihren Frauen, Die herrlichste von allen stand sie da, Wie eine Sonne war sie anzuschauen, Ich stand von fern und wagte mich nicht nah, Es fasste mich mit wollustvollem Grauen, Als ich den Glanz vor mir verbreitet sah, Doch schnell, als hätten Flügel mich getragen, Ergriff es mich, die Saiten auszuschlagen. Dieser folgt die des überschwänglichen Glücks, den Gefühlen den kunstvollen Ausdruck des Wohllauts in Worten und Tönen geben zu können. (Die Empfindung dieses „Dichterglücks“ vermittelt im Lied strukturell gleichzeitig eine Art erste Stufe triumphierender „Erfüllung“.) Was ich in jenem Augenblick empfunden, Und was ich sang, vergebens sinn’ ich nach, Ein neu Organ hatt’ ich in mir gefunden, Das meines Herzens heilge Regung sprach, Die Seele wars, die Jahre lang gebunden, Durch alle Fesseln jetzt auf einmal brach, Und Töne fand in ihren tiefsten Tiefen, Die ungeahnt und göttlich in ihr schliefen. Die dritte Strophe führt die Stimmung des Liedes mit der zurückhaltenden Geste der erwiderten Liebe bis auf die höchste Stufe des „hohen muot“ des Minnedienstes und bereitet die „moderne“ letzte Stanze vor, in der die Erfüllung des höchstmöglichen Glücks des Menschen in der privaten Sphäre der Liebe schließlich in abstrakte Verallgemeinerungen mündet: Und als die Saiten lange schon geschwiegen, Die Seele endlich mir zurücke kam, Da sah ich in den engelgleichen Zügen Die Liebe ringen mit der holden Scham, Und alle Himmel glaubt’ ich zu erfliegen, Als ich das leise süße Wort vernahm O droben nur in selger Geister Chören Werd ich des Tones Wohllaut wieder hören! « 78 «