OCR
LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE Das Gedicht, Summierung und poetische Bilanz, in seiner Aussage wie auch in der Form mehr oder weniger paradigmatisch für sámtliche lyrische Bekenntnisse des ersten Jahres in Weimar, markierte nicht nur die so wesentlichen gualitativen Veránderungen und inhaltlichen bzw. formalen Übergánge im Umwertungsprozess der Anschauungen des Dichters, sondern auch eine genau umrissene neue Ausgangsposition seiner Poesie. Diese Erneuerung schuf bereits 1776 durch die Widerspiegelung der zunehmenden Erkenntnisse tiber die Zusammenhänge zwischen subjektivem Wollen und objektivem Können, zwischen Mensch und Natur, zwischen Freiheit und Notwendigkeit auch Voraussetzungen für kontinuierliche Innovationen in der Lyrik der kommenden Jahrzehnte. Zu ihren typischen neuen Motiven gehörten bereits damals neben der wiederholten Relativierung der eigenen Stellungnahme bei der Konfrontation der alten und der neu entwickelten Normen im Rahmen von unschlüssigen Fragen und Antithesen und disjunktiven Stellungnahmen - die Sehnsucht und das Suchen nach einem annehmbaren Ausgleich aller Spannungen und Widersprüche sowie die ständig erhöhte Beachtung der wiederholt als Schicksal apostrophierten objektiven Wirklichkeit mit sämtlichen Konsequenzen für die damit verbundene praktisch-nützliche Verhaltensweise als Staatsmann und Dichter. An den weltanschaulich-lyrischen Normen gemessen, war die damalige Dichtung Goethes bereits den ein halbes Jahrzehnt später entstandenen repräsentativen Weltanschauungsgedichten (z. B. Grenzen der Menschheit und Das Göttliche), näher verwandt als der kurz zuvor entstandenen Gedankenlyrik der Frankfurter Jahre, von deren Normen er sich bereits zu Beginn seines Weimarer Aufenthaltes zu distanzieren im Begriff war. Der Schritt von Dem Schicksal von 1776 bis zu seiner umgearbeiteten Fassung unter dem Titel Einschränkung von 1789 — wie dies schon der veränderte Titel deutlich macht - war nicht mehr so groß wie zwischen der Adler-undTaube-Allegorie (1773) und jener der Seefahrt (1776). Mit dem Ausrufesatz Du hast für uns das rechte Maß getroffen hat Goethe 1776 vorübergehend das neu entdeckte Schicksal, die plötzlich groß und weit gewordene Welt, mit dem dreizehn Jahre später leicht veränderten Wunschsatz O wäre doch das rechte Maß getroffen - am Ende der frühklassischen Zeit — bereits das neue Ziel des ersehnten hochklassischen Ideals des sich in Italien „wiedergefundenen Künstlers“ verherrlicht. Der Weg zum schönen Ausgleich zwischen Wirklichem und Poetischem, „dem ersten und dem zweiten Leben“® in der Zeit der Anfänge der programmatischen Zusammenarbeit von Goethe und Schiller wenige Jahre vor 1800 war damit vorgezeichnet. ® Die Poesie wird von Goethe u. a. in „Dichtung und Wahrheit“ als „ein zweites Leben [...] in dem gemeinen wirklichen Leben“ apostrophiert. Goethe, Berliner Ausgabe, Bd. 13, S. 288.