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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE Ankunft in Weimar selbstverständlich keineswegs die Veränderung sämtlicher früheren weltanschaulichen und poetisch-ästhetischen Positionen zur Folge haben konnte. Dies umso weniger, da es in der sechs Jahrzehnte langen Entwicklung des Goethe’schen Werkes in keiner Zeit zu einer generellen Aufgabe der gesamten früher oder später vertretenen Ansichten gekommen ist. Für Positionsveränderungen, die jedoch kontinuierlich eine ganze Reihe von früheren Ansichten, Motiven, Stoffen und Formen innerhalb neuer Zusammenhänge bewahren, bietet die Entstehungsgeschichte des Faust die eklatantesten Beispiele. Zweifelsohne ist das Ausmaß der Normveränderungen innerhalb des Umwertungsprozesses in den Jahren 1775/76 bei einem Vergleich der typischen Positionen in Straßburg und Frankfurt mit denen der ersten anderthalb Jahre in Weimar besonders augenfällig. Die poetisch konstituierten weltanschaulichen Eckpfeiler Goethe’schen Denkens in Frankfurt wurden seit Hermann Hettner schon immer in der Gegenüberstellung eines Götz, Prometheus und Faust mit dem Typ Werther gesehen, mit Hettners eigenen Worten einerseits [...] im Götz, im Prometheus und in der Fausttragédie [...] das trotzige ungestüme Titanentum, das ungebändigte Stürmen und Drängen nach einer besseren und kraftvolleren Menschenart, nach schrankenloser Erkenntnis und Tatkraft [...] andererseits im Werther die tiefe Klage über den Verlust des erträumten Naturzustandes [...].?° Die unmittelbaren Beziehungen zwischen Werther und Prometheus erkannte aber schon Jakob Michael Reinhold Lenz, indem er bereits im Jahre der Veröffentlichung des Goethe-Romans behauptete, „Werther ist ein Bild, meine Herren, ein gekreuzigter Prometheus, an dessen Exempel ihr euch bespiegeln kônnt.“?1 Das schöpferische Handeln-Wollen eines dazu subjektiv veranlagten — um es mit dem Goethewort zu sagen — „göttergleichen“”” Menschen musste, bedingt durch die unüberwindbaren Schranken jedweder Umwelt, zum titanischen Leiden-Müssen führen. Prometheus und Werther, die beiden zum Sinnbild gewordenen Goethe-Gestalten des Sturm und Drang, waren daher ihren geistigen, schöpferischen und gefühlsmäßigen Anlagen nach in jeder Hinsicht gleich: Sie waren beide zum produktiven und vollständigen Leben geborene „göttergleiche“ Menschen im Sinne des Geniebegriffs der jungen Schriftstellergeneration am Anfang der 1770er Jahre. Die untrennbare Zusammengehörigkeit der zwei Motive hatte Goethe besonders prägnant im Gedicht Adler und 20 Hettner, Hermann: Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert. 2 Bde. Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag, 1979, Bd. 2, S. 12. ?! Lenz: Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers. Lenz, J. M. R.: Werke und Briefe, Bd. 2, S. 685. (Hervorhebung L. T.) 22 Goethe: ,,Wandrers Sturmlied“, Verse 33 und 38; (= Berliner Ausgabe, Bd. 1), S. 321. +54»