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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE momentan und direkt Erlebten als eine vorzügliche Bedingung echter lyrischer Wirkung überhaupt zu ermöglichen. Hinzu kamen die auf Grund der eigenen dichterischen Praxis entstandenen Ansichten Goethes über das Gedicht, indem er es nur als „Gelegenheitsgedicht“ akzeptieren konnte. Die Goethe’sche „Lesart“ hat allerdings Inhalt und Bedeutung dieses seit Martin Opitz in deutschen Poetiken geläufigen Terminus wesentlich verändert bzw. erweitert: Nach seinen Kriterien müsse dazu jeweils „die Wirklichkeit [...] die Veranlassung und den Stoff [...] hergeben“? Als er diese seine Bestimmung in Worte fasste, war bereits ein halbes Jahrhundert seit den ersten Gedichten in Weimar vergangen, doch wusste er sie mit einer unwiderlegbaren Selbstverständlichkeit auf die gesamte eigene Gedichtproduktion zu verallgemeinern: „Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden. Von Gedichten aus der Luft gegriffen halte ich nichts.“* Aber schon viel früher, bereits im Jahre 1788 gab er die Erklärung über den untrennbaren Zusammenhang zwischen Iyrischer Dichtung und erlebter Wirklichkeit ab, indem er den achten, also den lyrischen Band seiner ersten Werkausgabe mit den bis zu jener Zeit geschriebenen Gedichten von rund zwei Jahrzehnten „ein Summa Summarum so mancher Empfindungen eines ganzen Lebens“ nannte. Ähnlich äußerte er sich im Aufsatz für junge Dichter kurz vor seinem Tode, wobei neben dem wirklich Erlebten als zweite Goethe’sche Bedingung innovativen Gestaltungsprozesses lyrischer Produkte die Förderung der persönlichen Selbstentfaltung mit Nachdruck verlangt wurde: „[...] fragt euch nur bei jedem Gedicht, ob es ein Erlebtes enthalte und ob dieses Erlebte euch gefördert habe.“!% Diese Bestimmung Goethes ist sehr wahrscheinlich in einer direkten Kontroverse mit der Flut der romantisch-sentimentalen Lyrik zweiten und dritten Ranges entstanden, wie man ihr in den Periodika der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts immer wieder begegnet, indem sie im Weiterem folgendermaßen ausgelegt wurde: „Ihr seid nicht gefördert, wenn ihr eine Geliebte, die ihr durch Entfernung, Untreue, Tod verloren habt, immerfort betrauert. Das ist gar nichts wert, und wenn ihr noch so viel Geschick und Talent dabei aufopfert.“”” Trotz aller Zeitbezogenheit dieses Urteils entspricht jedoch auch diese ablehnende Stellungnahme den allgemeinen dichtungstheoretischen Maßstäben von Goethe. Besonders deutlich wird dies, wo er den Modedichtern seine poetologischen Maximen entgegenstellt, wie er sie von seiner Sturm-und13 Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Einführung und Textüberwachung v. Ernst Beutler. Zürich: Artemis-Verlag, 1948, S. 48. (= Gedenkausgabe Zürich, Bd. 24) 4 Ebd., S. 48 f. 15 Goethe an C. v. Knebel, 25. 10. 1788 (- Weimarer Ausgabe IV, Bd. 9, Nr. 2691), S. 44. 16 Ein Wort für junge Dichter. (- Berliner Ausgabe, Bd. 17), S. 715. 7 Ebd.