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DU HAST FUR UNS DAS RECHTE MASS GETROFFEN — GOETHES LYRIK AM ANFANG DES ERSTEN WEIMARER JAHRZEHNTS! Von Goethes großen literarischen Plänen konnte nach der Ankunft in Weimar im Herbst 1775 bis zur ersten italienischen Reise so gut wie nichts, manches sogar erst Jahre später realisiert werden. Goethe selbst gab darüber in den zwischen 1816 und 1825 verfassten Tag und Jahresheften rückblickend folgende einleuchtende Erklärung ab: „An allen vorgemeldeten, nach Weimar mitgebrachten, unvollendeten Arbeiten konnte man nicht fortfahren; denn da der Dichter durch Antizipation die Welt vorwegnimmt, so ist ihm die auf ihn losdringende wirkliche Welt unbequem und störend |...]“? Goethe war vorerst der Überzeugung, durch die in Weimar erhofften und angenommenen Handlungsmöglichkeiten im realen Leben tatsächlich wirksam werden und in den Ablauf der Geschehnisse in seiner Umwelt aktiv eingreifen zu können. Diese Möglichkeiten mochten ihm ja sowohl eine akzeptable Befriedigung des titanischen Tatendranges der Frankfurter Jahre als auch die damit verbundene individuelle Selbstbestätigung bzw. die volle Entfaltung seiner Persönlichkeit im Sinne der Geniekonzeption des Sturm und Drang versprochen haben. Zu prüfen waren in Weimar auch die allem Anschein nach äußerst günstigen Chancen einer indirekten Wirkung auf die Entwicklung des Herzogtums durch eine effektive Einflussnahme auf die Bildung des souveränen Herrschers im Geiste der „Fürstenerziehung‘“, wie sie von der Aufklärung schon seit jeher als eines der heilsamsten Rezepte für die Genesung der „kranken Menschheit“ verheißen wurde. In der Entwicklung Goethes hatte also die Übersiedlung nach Weimar zunächst keinerlei Bruch zur Folge, noch weniger kann sie als eine Art Inkonsequenz des Stürmers und Drängers ausgelegt werden. Das Ansehen des Verfassers des Werther und des Götz von Berlichingen nach seiner Ankunft, seine begeisterte Aufnahme durch Wieland, Knebel u. a., sein vertrauter Umgang mit dem jungen Herzog, schließlich das nunmehr als Wirklichkeit empfundene grenzenlose Leben in dem „glücklichen Zustand“ Der ursprünglichen Text dieses Kapitels war mein Konferenzbeitrag im Goethejahr 1982 an der Germanistentagung in Debrecen. Er erschien unter dem Titel „Die Umstrukturierung der weltanschaulichen und poetischen Normen in Goethes Lyrik am Anfang des ersten Weimarer Jahrzehnts“. In: Goethe-Studien zum 150. Todestags des Dichters. Hg. v. Mädl, Antal u. Tarnöi, Läszlö. Budapester Beiträge zur Germanistik, 1982, Bd. 9, S. 287-320. In den 70-er und den angehenden 80-er Jahren gehörte er zu meinen Vorlesungsthemen an der Budapester EötvösLoränd-Universität. Goethe, Johann Wolfgang: Tag und Jahreshefte In: Poetische Werke. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen in 22 Bänden. Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag, 1968-1978, S. 19. (= Berliner Ausgabe, Bd. 16) 19 +49 »