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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE früher im Zeitalter der Renaissance und später im aufgeklärten Jahrhundert, sondern nur Wandlungen im Chaos, in „dem Lerna°” malorum, dem Sumpfquell aller Siinden“* — den teuflischen Versuchungen und dem argen Schicksal stets gänzlich ausgeliefert. Der barocken Denkweise entsprechend habe es innerhalb dieser verkommenen und vergänglichen Welt auch keinerlei feste Anhaltspunkte gegeben: Simplicissimus, der Jäger in Hoechst fasste dies mit allgemeiner Gültigkeit in Worte, als er behauptete, dass „nichts Beständiges in der Welt ist als die Unbeständigkeit selbst.“ Welch große Bedeutung der Autor diesem Wort beigemessen hat, bestätigt auch dessen Wiederholung in den Schlussversen des einleitenden Gedichtes zum sechsten Buch: O wunderbares Tun! O unbeständigs Stehen! Wann einer wähnt, er steh, so muß er fürder gehen. O schlüpferigster Stand, dem vor vermeinte Ruh Schnell und zugleich der Fall sich nähert zu, Gleichwie der Tod selbst tut! Was solch hinflüchtig Wesen Mir habe zugefügt, wird hierinnen gelesen; Woraus zu sehen ist, dass Unbeständigkeit Allein beständig sei, immer in Freud und Leid.’ Bei diesem Weltbild gänzlich verunsicherten Daseins haben die neuen, an sich großartigen Erfindungen und Jahrzehnt für Jahrzehnt umfassenderen Kenntnisse über das Weltall und über die gesetzmäßigen Bewegungen der Himmelskörper dem Menschen jener Zeit nicht im Mindesten Gefühle der Selbstsicherheit vermittelt, geschweige denn Überzeugungen in ihm von seiner zunehmenden Macht über die Natur, die Welt und über sein eigenes Schicksal gefestigt. Ganz im Gegenteil dazu bestätigten die unermessliche Ausdehnung des materiellen Raumes sowie die nach heliozentrischen Maßstäben nunmehr labile und subordinierte Lage der „Erdkugel“ im Kosmos lediglich die ohnehin trostlosen Vorstellungen des Menschen von seiner eigenen Nichtigkeit. Empfindungen und Ideen von der „beständigen Unbeständigkeit“ in der Welt wurden in der deutschen Barockdichtung des Öfteren mit der Bewegung der Erde metaphorisch in Zusammenhang gebracht. Andreas Gryphius hat z. B. seine erschütternden Konsequenzen über die „Eitelkeit“ allen menschlichen Handelns, wie er sie in seinem berühmten Sonett Es ist alles eitell?”’ ausführlich 53 See bzw. Sumpfgebiet im antiken Griechenland bei Argos, in der griechischen Mythologie unter dem Wasser mit Zugang zur Unterwelt sowie Aufenthaltsort der lernäischen Hydra. 54 Ebd., Continuatio (= Buch 6), Kapitel 2. 55 Ebd., Buch 3., Kapitel 8. 5 Ebd., Continuatio (= Buch 6), Kapitel 1. (Hervorhebung L. T.) >” Gryphius, Andreas: „Es ist alles eitell.“ In: A. G.: Sonnete. Das erste Buch. Leiden den XX. April dieses 1643 Jahres. Veröffentlicht in: Die deutsche Literatur. Texte u. Zeugnisse. Bd. 3. Barock. Hg. v. Albrecht Schöne. München: C. H. Beck, 1963, S. 242 f. +42»