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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE in urbe“, d. h. als Blinde treiben wir uns in der Stadt (in breiterem Sinne des Wortes: in der Welt) herum, lässt in den entsprechenden Textzusammenhängen mit Vorwort und Liedern bereits den Geist barocker Welterlebnisse in Deutschland aufkommen, wie man diesem etwa im Simplicissimus-Roman begegnen kann, nach dem der Mensch ohne Sinn und Zweck im Chaos der verdorbenen Welt herumgetrieben werde. Ho(e)cks Lieder konfrontieren ja ihre Leser wiederholt mit Gedanken, nach denen diese unsere Welt von Grund aufschlecht, unser Leben vollkommen sinnlos und die zwischenmenschlichen Beziehungen, welcher Art diese auch sein mögen, unverbesserbar verkommen seien. Ängste und Resigniertheit wechseln sich fortwährend ab, wobei sich ein breiter Themenkatalog trostloser Verzweiflung auffachert — mit Tod, Vergänglichkeit, kontinuierlichen existenziellen Problemen, ganz und gar fehlender Zukunftszuversicht, mangelnden oder entstellten sozialen Kontakten, gescheiterter Liebe etc. Mit einem Wort öffnen sich in den Iyrischen Texten des Dichters immer wieder psychische Abgründe des menschlichen Lebens. Diese frühbarocke?”” Weltverachtung des Theobald Ho(e)ck und seine bewusste Entscheidung für eine neue anspruchsvolle Formensprache in der Lyrik markierten um 1600 freilich nicht nur in der Geschichte der deutschen Literatur die damals moderne Wende; die neue Tendenz, die plötzliche Veränderung der lyrischen Attitüden machten sich in jenen Jahren in Europa weit und breit bemerkbar. Liest man z.B. in Kenntnis des Schönen Blumenfeldt die moderne deutsche Nachdichtung folgender (zwischen 1601 und 1606 entstandener) Verse des Ungarn Jänos Rimay (1569-1631), so fallen gewiss die tendenz- und gehaltstypologischen Parallelen zwischen den Texten des deutschen und des ungarischen Dichters auf: Wie ein Garten, dessen Früchte Hagelschlag gemacht zunichte, wie ein altes morsches Haus, dessen Schindeldach verwettert, losgerissen und zerschmettert niederbrach im Sturmgebraus, eine Stätte, wo verdorben alles Gute und erstorben, so sieht diese Welt heut aus.?° 22 Der ursprünglich kunsthistorische Terminus „Frühbarock“ wurde in den europäischen Literaturgeschichten des Öfteren auch als „Manierismus“ auf die Literatur übertragen. 23 Rimay, János: Wenn die Zeit voll Zwietracht ist.... (Ins Deutsche übers. v. Martin Remane). In: Vom Besten der alten ungarischen Literatur. Vom 11. bis 18. Jahrhundert. Hg. v. Klaniczay, Tibor. Budapest: Corvina Verlag, 1978. S. 145. Die oben zitierten Verse lauten ungarisch: „Ez világ, mint egy kert, / Kit kőeső elvert, / Napról napra veszten vész, / Vagy mint senyvedt zsindel, / Kit ó-házról széjjel / Tétova hány nagy szélvész: / Ő mint romlandó ház, / Elveszendő szállás, / Jóktúl üresült rekesz." +14»