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6. NEUE VARIATIONEN DER ALTEN KLISCHEES Vorstellungen und Wünsche über Deutschland in die ungarische Umwelt." Damit bereicherte er aber unsere Kenntnisse vor allem über sich selbst und nur weniger über die Ungarn. Ob und in welchem Maße die vielen Ungarnbilder der Deutschen um 1800 überhaupt der historischen Wirklichkeit in Ungarn gerecht wurden, ist nicht leicht zu bestimmen. Auch Arndts Bericht belegte, dass sie schon eher Beiträge zu den Porträts der jeweiligen Verfasser lieferten. Die sachlich besonnenen Erwägungen über das Ungarnbild der Deutschen von dem ungarndeutschen Johann Ludwig Schedius, der neben dem Ungarn Ferenc Kazinczy gewiss der bedeutendste geistige Vertreter des damaligen Königreichs war, verwiesen dabei außer den vielen irritierenden zeitgenössischen Fake News bereits auch auf die möglicher Weise einheimische Wirkung der vielen oberflächlichen Ungarnbilderbilder der Ausländer: [...] Selbst der benachbarte, emsige jeden Beytrag zur Erweiterung seiner Kenntnisse so gern aufnehmende Deutsche [...] lernte [in Ungarn, L. T.] die Anstalten zur Aufnahme intellectueller und moralischer Cultur [...] nur héchst unvollkommen kennen [...], daher die Ungereimtheiten, welche von Fremden [...] theils nach dem Hörensagen, theils nach den Erzählungen flüchtiger oder hypochondrischer Reisebeschreiber, theils nach den einseitigen Berichten anonymer Einsender, uns sehr häufig aufgebürdet werden; daher die so ziemlich allgemein verbreitete Meinung von diesem Reiche, als ob es noch in tiefer Barbarey und Unwissenheit läge; daher die Verachtung und Vernachlässigung unserer einheimischen Literatur, die sich selbst viele Inländer, welche durch die Brille ausländischer Urtheile ihr Vaterland betrachten, zu Schulden kommen lassen.?! Die Botschaft des Ungarndeutschen Schedius an seine Landsleute im Jahre 1802 hieß demnach, von dieser Brille des Fremden möge sich wenigstens der schonen, der seine Heimat in Ungarn hat, sucht oder findet. Tatsache ist, dass die deutschsprachigen Ungarn - seit wann sie auch in diesem Land lebten und welcher Abstammung, Herkunft, Religion sie auch sein mochten - erlebten, veränderten und erneuerten ihre vielfältigen Beziehungen zu ihrer Umwelt, dem Königreich Ungarn, (nicht anders als ihre ungarisch kommunizierenden Landsleute) in einem ununterbrochenen, meist Jahrhunderte währenden Prozess. Was ihr literarisches Leben an belletristischen Werken, kritischen Schriften, wissenschaftlichen und kulturpolitischen Abhandlungen um 1800 in deutscher Sprache anzubieten hatte, vermittelt unzählige Informationen über das Land und seine ® Siehe z. B. seine Gedanken über Ungarns nationale Einheit. In: Arndt, Ernst Moritz: Erinnerung an Ungern, S. 324 f. In: Deutschsprachige Texte aus Ungarn, Bd. 3, S. 260. Siehe darüber ausführlicher im Kap. X/2. 31 In: Zeitschrift von und für Ungern, Bd. 1, H. 1, 1802, S. 8 f. + 301 +