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VIII. EINE GATTUNG OHNE GRENZEN... indirekte Beziehungen des Briefes zur dritten Hauptgattung der Literatur, ist ja der Dialog „gattungsprägendes Element des Dramas“. Dies untermauern z. B. Spannungen, wie sie 1802 und 1803 im offenen Brief-Dialog von einem unbekannten Preßburger deutschen Leser in der Leipziger Zeitung für die elegante Welt unter dem Titel Bruchstücke über Ungarn, und von dem Ungarnkorrespondenten des in Weimar veröffentlichten Neuen Teutschen Merkur in Fortsetzungen ausgetragen wurden.” Indem es dabei um grundverschiedene Positionen bei der Einschätzung des Beitrags der verschiedenen Nationalitäten zur Kultur des Königreichs ging, stießen in diesen offenen Briefen in jenen Jahren eigentlich noch untypische Emotionen des Vielvölkerkönigreichs aneinander. Die deutschsprachige Literatur in Ungarn liefert andererseits unzählige Beispiele auch dafür, dass der Brief zum Bestandteil verschiedenster belletristischer Werke instrumentalisiert wird.°! In fünf Pest-Ofener Dramen verschiedenster Genres aus der Zeit um 1800” gibt es zehn Briefe, die wichtige Einschnitte in die Handlungsführung markieren. Ähnlicherweise unterbricht in den gleichzeitig erschienenen Erzähltexten von Karl Herdt, Jacob Glatz und Carl Anton v. Gruber?” neben vielen Liedern auch eine ganze Reihe von Briefen den epischen Fluss der Ereignisse auf eine seinerzeit moderne Art, einerseits um eine Wende innerhalb der jeweiligen Handlung einzuleiten, andererseits um die Stimmung der empfindsamen Erzählweise zu unterstützen. 7. BRIEFE IN VERSEN — DIE DEUTSCHE „EPISTEL-POESIE“ IN UNGARN UM 1800 Schließlich gibt es in Ungarn vom ausgehenden 18. Jahrhundert an in einer Jahr für Jahr auffallend zunehmenden Zahl höchst anspruchsvolle deutschsprachige Briefe in gebundener Form, in Versen — geschrieben an Freunde, gleichgesinnte Dichter und andere Intellektuelle sowie an mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Wie in der aufgeklärten Poesie Deutschlands seit den mittvierziger Jahren des 18. Jahrhunderts wurde auch in der deutschen Literatur Ungarns um die Jahrhundertwende der Suche nach geselligen Beziehungen, dem Gefühl des ” Zeitung für die elegante Welt. 8. May 1802; Der Neue Teutsche Merkur, 1803, H. 2, S. 433-458; H. 3, S. 516-526. Siehe auch unter dem Titel Zwei Leserbriefe aus Ungarn. In: Deutschsprachige Texte aus Ungarn, Bd. 3, S. 161-178. Mehr darüber siehe in Kap. X1/4. 31 Über Briefe als Einlagen in erzählender und dramatischer Literatur siehe Nickisch, Brief, S. 158-170. 52 Die fünf Dramen siehe in: Deutschsprachige Texte aus Ungarn, Bd. 2. 520 S. 33 Die epischen Texte der genannten Autoren siehe in: Deutschsprachige Texte aus Ungarn, Bd. 3, S. 375-558. + 196 +