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2. UNSCHLUSSIGKEITEN DER IDENTITAT... 2. UNSCHLUSSIGKEITEN DER IDENTITAT — UNGARNBILDER „VON INNEN“ UND/ODER „VON AUSSEN“ Bei einem Vergleich mit der früheren ungarndeutschen Lyrik ist es allerdings noch mehr auffallend und auch von viel größerer Bedeutung, dass es in den Jahrzehnten des ungarischen Vormärz eine ganze Reihe von ungarndeutschen Gedichten gibt, in denen die Identität mit dem ungarischen Vaterland nicht mehr so eindeutig bzw. so ungetrübt artikuliert wurde wie früher (Typ II.). Eine Art unsichere und inkonsequente Distanzierung von Ungarn gab es früher nur in der Poesie der letzten (noch in Deutschland geborenen) Umsiedlergeneration (siehe dazu die Gedichte von Johann Paul Köffinger), und mangelnde Ungarnidentität (fehlendes bzw. wenig überzeugendes Hungarusbewusstsein) war einst vor allem lediglich für manche deutsche Dichter der westungarischen Regionen (z. B. für Karl Nitsch in Preßburg oder für Therese Artner im Raum Ödenburg, Preßburg, Neutra) bezeichnend." In der Lyrik des ungarndeutschen Vormärz begegnet man dagegen — wenn es darin um das Königreich und seine „Magyaren“ geht - recht oft einer Art „Blick von außen“. Der Zipser Johann Wittchen würdigte und bewunderte z. B. Den Ungarn im gleichnamigen Gedicht'* im gehobenen elegischen Versmaß, seine beeindruckende Gestalt, seine Ehrlichkeit, Treue und Offenherzigkeit, seinen Mut in den ruhmreichen Kämpfen, seine Bräuche, ja sogar seine ausdrucksvolle Sprache und seine Träume sowie den Reichtum seiner Gefühle und Gedanken und endlich, wie bei den deutschen Nachbarn seit dem hohen Mittelalter bis zum „Piroschkafilm“, die anziehende Schönheit seiner Frauen und zog die Schlussfolgerung eines dem Land und den Leuten des Königreichs verbundenen Nicht-Ungarn: Suchst du ein Land, wo du willst dich niederlassen in Frieden, Bleibe in Ungerland, und du bist glücklich und froh. Auch der Kontext des Gedichtes untermauert nämlich: Mit diesen Worten lud nicht der Hausherr, der Wirt, sondern der zufriedene Gast auf wohlwollende Weise die neuen Besucher zum Bleiben. Solcherart merkwürdige Distanzierung des jeweiligen Dichters von dem bewunderten Land und seinen Einwohnern fiel allerdings in der deutschsprachigen Vormärzpoesie Ungarns des Öfteren noch viel deutlicher aus. „Mein Vaterland / Du treues Land! / Das Stephans frommer Sinn verband, / Einst mit des Glaubens sich’rem Stifft [!] / Und mit der Freiheit heil’ger Schrift; / Drum bliebst du frei und fromm und schlicht, / Und wanktest nicht, / In deiner Pflicht.“ 2 Vgl. dazu Kap. V/4. Wittchen, Johann: Der Ungar. In: Liebe, Ernst und Scherz. Leutschau: Johann Werthmiiller, 1839, S. 15 f. + 141 +