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6. UNGARISCHES LOKALKOLORIT IN DER UNGARNDEUTSCHEN LYRIK Eine besondere typologische Kategorie repräsentieren ungarndeutsche Gedichte mit typischen Natur- und Landschaftsbildern. Hierzu gehören nicht nur solche dynamischen Bilder, wie man ihnen z. B. in der Puszta-Darstellung Grubers begegnet, sondern auch die stimmungsvollen poetischen Landschaftsbilder in der Art des „ut pictora poesis“, wie sie in der Dichtung der deutschen Frühaufklärung verbreitet waren. Ihre Bedeutung ist umso größer, da die ungarndeutsche Poesie nicht minder als die zeitgenössische deutsche Modedichtung von einer zeit- und raumlosen Naturszenerie beherrscht war. Die Naturschemata mit Hügeln, Tälern, Wiesen, etc. streben ihrer poetischen Funktion entsprechend lediglich danach, möglichst gegenstandslose und sublimierte Stimmungen und Regungen des empfindsamen Geistes zu variieren und nachempfinden zu lassen. Aus der endlos eintönigen Reihe solcher ungebundenen Naturszenen der ungarndeutschen Anthologien heben sich diejenigen ab, welche das unverwechselbare pannonische Zuhause belichten, wenn etwa die Berghänge plötzlich mit hier und dort hochschießenden spitzen Pappeln, Mandelbäumen und rankenden Weinreben belebt werden. Keine der „Feldblumen“, die von Nina und Theone angeblich „in Ungarn gesammlet“ wurden, vermitteln so viele Impressionen von den ungarischen „Fluren“ wie die folgenden Verse in Röslers Der Weinberg bey Acsa: Schön gereihet, Berg heran und queer, Majestätisch auf zum Himmel strebend, Spitzen Pappeln ihr Gezweige, bebend Flattert, rauscht, das schwanke Laub umher, Und die Rebe mit der süßen Last Rankt sich ihnen an, und schwer behangen; Freundlich von den Freundinnen empfangen Und geschützt wird der beladne Gast. Welch ein Zauber! Evan, Evoe! Zwischen Pappeln, zwischen Mandelzweigen, Schwesterlich vereint mit ihnen steigen Traubenvolle Reben in die Hoh: Und von Baum zum Baume rings herum Schlingen sich die stattlichen Gehänge, Traub’ an Traube dran wie im Gedränge, Evan, hier ist dein Elysium!** Feldblumen auf Ungarns Fluren gesammlet von Nina [Marianne Tiell] und Theone [Therese Artner]. 2 Bde. Jena: J. G. Voigt 1800, 158; 167 S. Rosler, Christoph: Der Weinberg bey Acsa. [2. u. 3. Strophe] In: Musen-Almanach von und fiir Ungern auf das Jahr 1804. Hg. v. Ch. R. Pest: Verlag bei Konrad Adolph Hartleben, 1804, S. 57 f. In: Deutschsprachige Texte, Bd. 1, S. 237. + 85 +