LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE
Selbst Goethe hatte — angeregt von Friederike Bruns Ich denke dein — 1796
ein sentimentales Lied mit dem Titel Nahe des Geliebten herausgegeben,
das in den folgenden Jahren wiederholt nachgeahmt wurde.® Anklänge zur
Empfindsamkeit gab es formal auch in manchen seiner Lieder nach der Jahr¬
hundertwende, der Ernst des Sentimentalismus wurde aber einmal, in Schäfers
Klagelied, durch die volkstümliche Stimmung,‘ ein andermal, in Trost in
Tränen durch den empfindsamkeitsfremden verspielten Grundton des Dialogs”
sowie durch die leicht pointierte Abschlussstrophe aufgehoben.
WIRKLICH IST ES ALLERLIEBST / AUF DER LIEBEN ERDE — DIE GEHALTS¬
TYPOLOGISCHE SONDERSTELLUNG DER GOETHE’SCHEN LyRIK (1800-1804)
Gewiss lassen sich manche intertextuellen, ja sogar thematischen und poesie¬
historischen Beziehungen um 1800 zwischen der Lyrik von Goethe und seiner
bedeutendsten Zeitgenossen (wie Schiller, Hölderlin, die Frühromantiker, ja
auch die angehenden jüngeren Romantiker) nachweisen. Es gab damals tat¬
sächlich zahlreiche Beziehungen, z. B. in der gemeinsamen Beteiligung an dem
allmählichen Rückgang der deutschen klassizistischen Dichtung in der lyri¬
schen Praxis (besonders auffallend nach 1803) sowie am neuen Zugang zur
deutschen Liederdichtung, gleichzeitig sogar an dem plötzlich wieder entstan¬
denen Interesse mehrerer Dichter (u. a. auch von Goethe) für das Sonett’!, oder
z. B. in der oben bereits erwähnten mehr oder weniger offenen Haltung der
deutschen Dichter zur sentimentalen Mode. Parallelen, zum Teil auch inten¬
sive Beziehungen zueinander, erwiesen sich ebenso in der entschiedenen Kritik
aller bedeutenden deutschen Schriftsteller an den verschiedenen (um und nach
der Jahrhundertwende unverändert der Spätaufklärung verpflichteten) ana¬
chronistischen Tendenzen in der Poesie, so unterschiedlich der Tenor ihrer
kritischen Ablehnung auch ausfallen mochte, und im Zusammenhang damit
6 Goethe: Nähe des Geliebten (1796). Gedichte und Singspiele. Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag,
1966, Bd. 1, S. 42 f. (= Berliner Ausgabe, 1.)
Als Beispiele dafür seien hier Theodor Körners „Nähe der Geliebten“ und des Ungarn Jacob
Glatz’ „Erinnerung an Elisen genannt“. Letzteres siehe in: Deutschsprachige Texte aus Ungarn,
Bd. 1, S. 108 f.
Goethe: Schäfers Klagelied (entstanden 1802, erschienen 1804). (= Berliner Ausgabe, Bd. 1),
S. 59 f.
Goethe: Trost in Tränen (entstanden 1803, erschienen 1804), ebd., S. 60 f.
Nach einer nahezu hundertjahrigen Pause wurde das von dem aufgeklarten Jahrhundert ver¬
pönte Sonett Ende der 80er Jahre von G. A. Bürger wiederentdeckt, anschließend von seinem
Schüler, A. W. Schlegel, mit manchen beachtlichen Exemplaren bekannt gemacht (z. B. „An
Bürgers Schatten‘, „Auf Goethe“, „Das Sonett“) und zur Zeit der Jahrhundertwende auch von
Goethe erprobt (siehe später). Die plötzliche Verbreitung und die große Nachfrage unter den
Lesern dokumentieren in nur vier Jahrgängen der ZEW (von 1801 bis 1804) 30 Sonette (!) von
insgesamt 139 Gedichten. Siehe dazu auch Schnittpunkte, Bd. 1, S. 274-276.