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liche Veranlagung der schöpferischen und der Alltagsmenschen schon immer
voraussetzte?, vorläufig noch mit jedem Grund angenommen werden. Da¬
gegen trennen die Weiterführung dieses Gedankens mit den Worten „Sehe
jeder, wie er’s treibe, / Sehe jeder, wo er bleibe“ sowie das sachliche Ermessen
dieser individuellen Unterschiede mit der abschließenden Bibelweisheit „Und
wer steht, dass er nicht falle!“ dieses Gedicht vielmehr von der kurz zuvor in
Frankfurt entstandenen Lyrik als von der um Jahrzehnte späteren hoch- und
spätklassischen Spruchdichtung Goethes.

Auch in Sorge wurden die Fragen der Unsicherheit als praktisch sinnlose
Zweifel nicht gelöst, sondern letzten Endes als solche entschieden abgelehnt.
Schließlich kam es in Sorge wie auch in Erinnerung zu solchen Konsequenzen,
die in Goethes vorheriger Dichtung kaum denkbar waren: Die Entscheidung
für die akzeptierte Beschränkung auf die sachliche Erwägung der „Sorgen“,
die einen schließlich „klug“ (d. h. für real mögliches Handeln vernünftig)
machen müsse sowie die Einsicht in das mögliche und notwendige Maßhalten
in Erinnerung, die allein das „Glück“ des Menschen verheißen könne, waren
unmissverständliche Bestandteile einer neuen Norm. Sie gaben keine direkte
Ja- oder Nein-Antwort auf die zu entscheidenden Fragen. Das wäre auch nicht
mehr möglich gewesen. Die Fragestellung selbst wurzelte nämlich, bedingt
durch die Konfrontierung der früher antizipierten Anschauungen und der
neuen Kenntnisse, noch in gewissem Maße in der Vergangenheit, die Antwort
enthielt aber bereits erste Motive der Überwindung der unter den neuen Um¬
ständen anachronistisch gewordenen Ansichten und bildete somit die Grund¬
lagen für die Entfaltung der neu aufkeimenden Normen. Vor allem dadurch
widerspiegelten sich in den poetischen Zeugnissen der Anfänge Goethes in
Weimar die ersten Resultate des qualitativen Umwertungsprozesses früherer
Anschauungen. In den angeführten Beispielen äußerte sich die Unschlüssigkeit
des Dichters einerseits in der neu motivierten Fragestellung und andererseits
in der ihr mehr oder weniger ausweichenden Antwort.

Die Umstrukturierung der ehemaligen Ansichten veranschaulichen recht
plausibel auch epigrammatische Gedichte wie Königlich Gebet, Mut, Hypo¬
chonder und Menschengefühl. Alte und neue, zuvor in keinem Goethe-Gedicht
vorhandene Motive verflechten sich in den ersten beiden, wobei der abrupte
Übergang der einen Stilrichtung in die andere vielleicht nirgends so deutlich
nachweisbar ist wie gerade in diesen Gedichten.

Die stolzen, selbstbewussten Ausrufe der persönlichen Entfaltung in den
ersten Versen des Königlich Gebets mögen ihre Wurzeln noch in der Genie¬
konzeption gehabt haben:

30 Entsprechende Beispiele dafür siehe in diesem Band S. 303.